Datum: 2.3.2008
Sehr geehrter Prof. Dr. Ortlieb,
I)
... ich schon lange ein möglichst _einfaches_ Modell eines Wirtschaftssystems zu finden, das man dann in einem EDV-Programm implementieren kann. Im Jahr der Mathematik bitte ich um Ihre Unterstützung.
Ich habe folgendes einfache Modell entwickelt:
1)
Das Modell
Voraussetzungen:
Es gibt in diesem extrem einfachen Modell (z.B. auf einer uns unbekannten Insel mit z.B. 50 Menschen) nur einen
Unternehmer, bei dem alle Bewohner dieses Wirtschaftsraums (außer dem Unternehmer selbst)
als Beschäftigte arbeiten und bei dem alle Beschäftigten deshalb einkaufen müssen.
Der Unternehmer zahlt allen Beschäftigten insgesamt pro Monat die Lohnsumme L. Die Lohnsumme sei die einzige Ausgabe die der Unternehmer hat. Der Unternehmer hat keinen Privatkonsum.
Der Unternehmer muss alle seine Produkte monatlich insgesamt zu einer Preissumme P verkaufen, die größer als seine monatliche Lohnsummenausgabe L ist. Dies ist notwendig, damit er einen Gewinn macht (L ist eine Ausgabe, P ist die erwartete Einnahme, wenn er alles verkaufen würde). Also muß gelten:
P > L
Der Umsatz kommt von dem Geld der Bewohner her, das diese bei diesem Unternehmen ausgeben, wenn sie einkaufen. Da aber jeder Bewohner Beschäftigter des Unternehmens ist, ist der Umsatz des Unternehmens maximal der Lohnsumme (wenn nämlich alle Bewohner nichts sparen). Es gilt also:
U <= L
Damit gilt insgesamt:
U < P
Das heißt der Unternehmer kann nicht alle Waren verkaufen (Überproduktion).
Das Modell "funktioniert" also nicht!!
2)
Deshalb habe ich folgende Fragen dazu:
a) Muss prinzipiell in diese Modelle noch eine Institution (Bank, die Geld druckt) eingefügt werden, die Geld herstellt und dieses Geld der Waremenge, die jeden Monat neu in den Wirtschaftskreislauf kommt, anpasst ?
Wie kommt dieses Geld dann in den Umlauf. Wer bekommt es ?
Die Beschäftigten etwa, damit sie alle Waren aufkaufen können oder die Unternehmer ?
b) Kann ein Modell mit nur einem Unternehmer prinzipiell nicht funktionieren ?
c) Muss notwendig der private Unternehmerkonsum und die Vermögensanhäufung (Sparen) der Beschäftigten in dieses Modell aufgenommen werden?
d) Zusammenfassend gefragt:
Wie muss ein möglichst einfaches Modell aussehen, damit es "funktioniert" und man es als EDV-Programm abbilden kann?
Da Sie sich mit mathematischen Simulationen der Volkswirtschaft beschäftigen, bitte ich Sie recht herzlich, mir diese Frage zu beantworten.
mfg
...
GEGENREDE
Datum: 2.3.2008
Sehr geehrter Herr ...,
aus Ihren Überlegungen wird zunächst einmal klar, dass ein kapitalistisches Wirtschaftssystem ohne Wachstum nicht funktionieren kann. Das ist doch schon eine Einsicht, die in der öffentlichen Diskussion keineswegs geläufig ist. Wenn Sie einen Unternehmer haben, der teurer verkauft als er produziert, also Gewinn einbehält, den er nicht oder jedenfalls nicht vollständig selbst konsumiert, muss er etwas anderes damit machen: Er muss ihn reinvestieren, um die Produktion zu erhöhen. Das setzt entweder eine wachsende Zahl von Arbeitskräften oder eine Erhöhung der Produktivität voraus. Ferner wird vorausgesetzt, dass ein Teil der produzierten Waren aus Produktionsmitteln besteht. Wenn man die Differenzierung zwischen Konsumgütern und Produktionsmitteln nicht machen will, braucht man ein Produkt, das sich für beide Zwecke einsetzen lässt. Ein klassisches Modell in diesem Zusammenhang ist die so genannte Weizenwirtschaft: Der Weizen kann entweder gegessen oder für die neue Saat verwendet werden. Bei konstantem Anteil des Unternehmers an der Gesamtproduktion kommen Sie damit auf exponentielles Wachstum, was allerdings eine unbeschränkte Menge an Arbeitskräften und Land voraussetzt.
Sie sehen hier schon, dass es ein einigermaßen realistisches Modell mit konstant gehaltenen Bedingungen nicht geben kann, weil irgendwann die Gewinne sich nicht mehr in der bisherigen Form einsetzen lassen. Der Kapitalismus kann nur weiterexistieren, wenn er sich immer neue Märkte schafft, und das ist schwer zu modellieren, weder durch ein einfaches Modell noch durch komplexere. Meines Wissens gibt es solche Modelle nicht. Es gibt völlig unrealistische Wachstumsmodelle, die tatsächlich exponentielles Wachstum generieren, und es gibt realistischere Modelle, die aber nur Kurzzeitprognosen zu ihrem Zweck haben. Letztere sind in der Regel erstens hochkomplex und zweitens für Langzeitbetrachtungen völlig ungeeignet.
Sie sehen also, dass ich Ihre Frage nicht beantworten kann aus Gründen, die im Gegenstand (kapitalistisches Wirtschaftssystem) selbst liegen und auch nichts damit zu tun haben, ob man noch weitere Unternehmen oder Banken ins Modell einbezieht. Insofern hängt das weitere Vorgehen sehr davon ab, was Sie mit Ihrem Modell bezwecken.
Mit freundlichen Grüßen
Claus Peter Ortlieb
GEGENREDE
Datum: 3.3.2008
C.P.Ortlieb schrieb:
Vielen Dank für Ihre Antwort. Ich habe mich sehr darüber gefreut!
>
> Sehr geehrter Herr ...,
>
>aus Ihren Überlegungen wird zunächst einmal klar, dass ein kapitalistisches
>Wirtschaftssystem ohne Wachstum nicht funktionieren kann.
>Das ist doch schon eine Einsicht, die in der öffentlichen Diskussion keineswegs
>geläufig ist. Wenn Sie einen Unternehmer haben, der teurer verkauft als er
>produziert, also Gewinn einbehält, den er nicht oder jedenfalls nicht
>vollständig selbst konsumiert, muss er etwas anderes damit machen:
>Er muss ihn reinvestieren, um die Produktion zu erhöhen.
>
>
Bei mir fängt das Problem noch weiter vorne an:
Da der Unternehmer immer weniger Gesamtlohn zahlt, als dass alle seine Waren Wert haben (damit meine ich den Gesamtpreis, den er für alle seine Waren - wenn es sie _alle_ verkaufen würde - kassieren würde), kann er gar nicht alle seine Waren verkaufen. Er würde immer auf einem Teil seiner Waren sitzen bleiben.
Er würde nur das Geld wieder bekommen, das er den beim ihm Beschäftigten vorher schon als Lohn gegeben hat. Von wo anders kann ja das Geld nicht herkommen. Es muss von dem Lohn der bei ihm Beschäftigten herkommen.
Es müsste _laufend_ eine _Überproduktionskrise_ herrschen.
Wo ist mein Denkfehler?
mfg
...
GEGENREDE
Datum: 3.3.2008
Hallo Herr ...,
der Unternehmer muss, wenn er Überschuss produziert, den er nicht selbst konsumiert, diesen reinvestieren (sonst würde er in der Tat auf einem Teil seiner Waren sitzen bleiben).
Das heißt, dass ein Teil der Produktion aus Produktionsmitteln bestehen muss, oder aber die Waren müssen sowohl für den Konsum als auch für die Produktion einsetzbar sein (daher die Weizenwirtschaft-Modelle, auf die ich hingewiesen habe).
MfG
C. P. Ortlieb
GEGENREDE
Datum: 7.3.2008
>
> Hallo Herr ...,
>
> der Unternehmer muss, wenn er Überschuss produziert, den er nicht
>selbst konsumiert, diesen reinvestieren (sonst würde er in der Tat
>auf einem Teil seiner Waren sitzen bleiben). Das heißt, dass ein Teil
>der Produktion aus Produktionsmitteln bestehen muss, oder aber die
>Waren müssen sowohl für den Konsum als auch für die Produktion
>einsetzbar sein (daher die Weizenwirtschaft-Modelle, auf die ich hingewiesen habe).
>
Danke für Ihre Antwort. Ich habe darüber nachdedacht und versuche mal einen konkreten Fall zu untersuchen:
Die 500 Beschäftigten der Insel, die (mit Ausnahme des Unternehmers) die alleinigen Bewohner sind und alle bei dem einzigen Unternehmer auf der Insel arbeiten, produzieren im ersten Monat des Bestehens der Insel 500 Brötchen und 10 Teigmaschinen, wobei die 10 Teigmaschinen die Produktionsmittel sind.
Ich mache die vereinfachte Annahme, dass die Produktionsmittel unverwüstlich sind und sich nie abnutzen (oder kaputt werden).
Mit dem Lohn, den die Beschäftigten erhalten und auch komplett ausgeben, können (und müssen) diese jeden Monat die 500 Brötchen kaufen und verbrauchen (essen), da sie sonst verhungern würden.
Nach dem 1. Monat sind dem Unternehmer also die 10 Teigmaschinen in den "Besitz übergegangen".
Was passiert nun im 2. Monat?
Fall1:
Die Beschäftigten der Insel produzieren wieder 500 Brötchen und 10 Teigmaschinen.
Dies ist aber nicht sinnvoll, da der Unternehmer aus dem letzten Monat 10 Teigmaschinen hat, diese nutzen kann und deshalb keine neuen Teigmaschinen mehr benötigt. Also ist es nicht sinnvoll, weiterhin Teigmaschinen zu produzieren.
Fall2:
Die 500 Beschäftigten der Insel produzieren keine Teigmaschinen mehr, da diese Teigmaschinen schon im letzten Monat produziert wurden und deshalb bei der Herstellung der Brötchen jetzt benutzt werden können. Da diese Teigmaschinen jetzt also benutzt werden, sparen die Beschäftigten die Zeit, die bei der Herstellung der Teigmaschinen benötigt werden _würde_. In dieser eingesparten Zeit können die Beschäftigten jetzt stattdessen Brötchen produzieren. Die produzierte Anzahl Brötchen ist also grösser als 500.
Ich nehme z.B. an, dass die Beschäftigten 600 Brötchen hergestellen.
Da die Beschäftigten aber mit Ihrem Gehalt nur 500 Brötchen kaufen können, hat der Unternehmer 100 Brötchen zu viel und kann diese nicht verkaufen oder reinvestieren. Es hat also eine Überproduktion stattgefunden.
Sie sagen: "der Unternehmer muss, wenn er Überschuss produziert, den er nicht selbst konsumiert, diesen reinvestieren".
Wie soll er jetzt konkret investieren?
Es gibt nur 500 Menschen auf der Insel. Alle arbeiten schon bei dem Unternehmer, alle haben ihren ganzen Gehalt schon für die Brötchen ausgegeben.
Wo ist mein Denkfehler?
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Bemerkung:
Mir ist es auch persönlich sehr wichtig, dieses grundlegende Problem verstehen (deshalb bitte ich darum, meine Fragen nicht als Nörgelei tzu verstehen) da mir die Volkswirtschaftslehre als "Rechtfertigungswissenschaft" vorkommt:
Die Unternehmer sagen: Löhne runter, weil sie Kosten sind.
Die Gewerkschaftsfunktionäre sagen: Löhne rauf, damit mehr gekauft werden kann. Dies "kurbelt" die Wirtschaft an.
Neoliberale sagen: Bring den Lohn am besten selbst noch mit, damit man mit den Sklaven konkurrieren kann.
Ich bin ökonomischer Laie, lasse mich aber gerne belehren. Deshalb habe ich schon alle möglichen Stellen und Personen (auch Anhänger der Marktwirtschaft) dazu befragt, aber keine _konkrete_ Antwort erhalten.
Mir kommt es so vor, als ob sich "alle" (auch _widersprechende_) ökonomischen Ratschläge (wie z.B. "Löhne rauf", bzw. "Löhne runter") aus der Volkswirtschaftslehre ableiten lassen (wie eine beliebige Ausage aus einem inkonsistenten Axiomensystem).
Da Sie Mathematiker und Volkswirtschaftler sind, wende ich mich an Sie und versuche mein Wissen zu erweitern.
mfg
...
GEGENREDE
Datum: 7.3.2008
Hallo Herr ...,
hinsichtlich Ihrer Modellüberlegungen kann ich mich nur wiederholen: Da ist kein Denkfehler, sondern es ist wirklich so, dass eine kapitalistische Wirtschaft, die nicht expandieren kann, sofort in einer Überproduktionskrise landet.
Wenn Sie in Ihrem "konkreten Fall" mit 10 Beschäftigten beginnen würden (die anderen 490 müssten dann von irgend einer Art Subsistenzwirtschaft leben), könnte das System eine Zeit lang expandieren und die anderen 490 nach und nach als Arbeitskräfte einstellen, aber irgendwann wäre wieder die Grenze erreicht, und es käme zur Überproduktionskrise. Der Unternehmer müsste sich dann etwas Neues ausdenken. Er könnte die Brötchen z. B. exportieren, müsste dann aber auch anfangen, die Produktivität zu erhöhen und die menschliche Arbeit durch Automaten zu ersetzen. Oder er könnte einen neuen Markt aufmachen, z. B. für Turnschuhe. Damit das in einer geschlossenen Volkswirtschaft funktionieren kann, müssten die Löhne erhöht werden, damit die Arbeiter nicht nur Brötchen, sondern auch Turnschuhe kaufen können. Trotzdem käme es über kurz oder lang wieder zur Überproduktionskrise usw.
So "funktioniert" Kapitalismus, indem er sich von Krise zu Krise treibt, und irgendwann (vermutlich) ist Schluss.
Sie können an diesem Statement erkennen, dass ich kein Volkswirtschaftler bin, sondern bloß ein Mathematiker, der die mathematische Modellbildung in der (herrschenden) Volkswirtschaftslehre kritisiert. Dort wird allen Ernstes davon ausgegangen, die Wirtschaft befände sich andauernd im Gleichgewicht (zwischen Angebot und Nachfrage), was ich in einem der beiden angehängten Texte als dogmatische Harmonielehre kritisiert habe. Ihrer Kennzeichnung als "Rechtfertigungswissenschaft" würde ich zustimmen, womit dann allerdings der Status einer Wissenschaft schon nicht mehr vereinbar wäre.
"Rechtfertigungslehre" wäre insofern genauer.
Die beiden angehängten Texte von mir setzen sich kritisch und teilweise polemisch mit der herrschenden VWL auseinander. Sie sind beide im Jahr 2004 in verschiedenen Zeitschriften erschienen, die sich an ganz unterschiedliche Adressatenkreise wenden. Die entsprechenden Literaturzitate finden Sie im unteren Teil meiner Homepage
www.math.uni-hamburg.de/home/ortlieb/.
Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass Sie von mir eine positive Antwort auf Ihre Frage nach einem einfachen, funktionierenden Modell einer kapitalistischen Wirtschaft nicht bekommen können, weil es nach meiner Überzeugung ein solches Modell überhaupt nicht geben kann. Falls Sie trotzdem weiterhin danach suchen würden, wäre ich also der falsche Ansprechpartner.
Mit freundlichen Grüßen
Claus Peter Ortlieb